Hänsel und Gretel im Murmelbachtal

 

Es ist ein warmer Sommertag im August. Im Gegensatz zu den vorherigen Tagen ziehen gen Abend langsam dunkle Wolken von Süd-West am Himmel auf. Die Temperatur wird dadurch aber nicht gemindert, im Gegenteil die Luft wird langsam von einer leicht feuchten Schwüle durchzogen. Dies könnte aber auch an der Örtlichkeit liegen an der sich unsere beiden Fremden verabredet haben.

 

Kontakt haben sie kurz zuvor erstmals übers Internet miteinander bekommen und nun stehen sie sich ganz spontan, am Rande eines bewaldeten Gebietes gegenüber. Durch dieses schlängelt sich ein Bach an dem kleine Teiche wie Perlen aufgereiht sind.

 

Er, 1 Meter 93, gut gebaut, Brillenträger, den Kopf mit einem Strohhut bedeckt, den er bestimmt nicht gewählt hat weil er einen Sonnenbrand befürchten müsste.

Sie, etwas über 20 cm kleiner, die rundliche Statur geschickt mit einem gerade geschnittenen sommerlichen Kleid kaschiert und ebenfalls Brillenträgerin.

 

Beide hatten, bis zu dem Moment als sie sich gegenüberstanden, keine Ahnung wie der andere aussieht. Doch sind sie angenehm überrascht. Eine spontane Sympathie schwebt von Anfang an über der Szene, die auch deutlich macht dass sogar gestandene Männer ihre Nervosität nicht immer ganz unterdrücken können.

Nach der anfänglichen Unsicherheit ist schnell klar, die Beiden wollen, trotz der schwarzen Wolken, den Spaziergang in den unbekannten Wald wagen.

Sie kehren mutig dem Parkplatz den Rücken und betreten den Weg in den Wald. Auf der linken Seite wird durch einige wenige Bäume ein Minigolfplatz sichtbar. Trotz der Abendzeit ist er noch bespielt. Schnell verliert sich der Weg in den Bäumen. Ganz sanft steigt er an und der erste Teich wird sichtbar. Doch die Beiden bleiben auf dem Weg und folgen diesem weiter in den Wald. Linker Hand, am Rande einer Lichtung, steht ein Hochsitz, und unser Strohhutträger sichtet auf ihm einen Jäger. In beiden kommt gleichzeitig der Gedanke hoch den sie aussprechen: „Hoffentlich will er später nicht schießen, nicht dass er uns im Dämmerlicht noch trifft.“

 

Es entsteht ein lockeres Gespräch und beide dringen tiefer in das unbekannte Terrain vor.

 

Als sie den kleinen Bachlauf an einer Brücke überqueren, hören sie zum ersten Mal deutlich das leise Murmeln des Wasserlaufes. Sie bleiben stehen und genießen es einige Minuten.

 

Beim nächsten Teich möchte er gerne näher ans Wasser und wundert sich dort über den sehr aufgeweichten Uferbereich. Es scheint als ob kürzlich, sehr begrenzt auf ein paar wenige cm², ein großer Niederschlag erfolgte. Ein Lächeln überzieht ihr Gesicht, als sie ihre Vermutung kund tut, dass es wohl nur deshalb dort so nass ist, weil die Hunde, die im Teich gebadet haben, nach dem Verlassen des Wassers, sofort ihr Fell vom unnötigen Nass befreit haben.

Nur zwei Schritte weiter werden unsere beiden Erkundler von einem, im Gegensatz zur Umgebungsluft, deutlich wärmeren Luftstrom umweht. Es entsteht das Gefühl irgendwo sei ein Ventilator versteckt. Leicht irritiert blicken sich beide um. Die Irritation über dieses luftige Phänomen wird nach einigen wenigen Schritten noch verstärkt, denn der seltsame Luftstrom verebbt genauso unvermittelt, wie er sie getroffen hat.

 

Ein Kaninchen, das über die Wiese hoppelt, zieht nun ihrer beider Aufmerksamkeit auf sich und lässt die luftige Masse schnell vergessen.

Am anderen Ende des Sees, wo der Bach mündet, ist wieder eine kleine Brücke zu überqueren. Auf der anderen Seite ist der breite Weg verschwunden und ein kleiner gewundener Pfad mit sehr natürlichen Treppenstufen weist ihnen den Weg durchs Unterholz. Die Welt in der sie sich bewegen scheint sich inzwischen auf einer fernen Insel zu befinden, fern ab der Zivilisation.

 

Leider hält dies nicht sehr lange an, und sie betreten wieder einen breiten Weg, der nach kurzen etwas steiler bergan führt.

Eine Wiese mit grasenden Lamas gilt es als nächstes zu bewundern.

Und dann zollt der stetige bergige Anstieg seinen Tribut.

Leicht ermüdet sinken beide, am Rande einer großen Wiese, oberhalb des Waldes, unter einer Kastanie, zu Boden um dort ihr intensives Gespräch fortzusetzen und sich ein wenig zu erholen.

Dabei scheint es, als komme ihnen völlig die Zeit abhanden.

Selbst als sie von den ersten Fledermäusen umschwärmt werden, ist ihnen noch nicht bewusst, wie der Rückweg, durch den dunklen Wald, von Minute zu Minute mit weniger Licht beschienen und langsam in der heran brechenden Dunkelheit unsichtbar wird.

 

Erst als ein feuerroter, noch fast voller Mond, durch die Wolkendecke glüht, werden sie sich ihrer Situation bewusst. Doch viel zu angenehm ist es dort, gemeinsam unter dem Baum, als dass sie diesen Platz aufgeben möchten. Daher verweilen sie noch einige Minuten und genießen das Besondere dieses Sommerabends.

 

Wir können nur erahnen, wie es um sie steht, als sie sich endlich an den Rückweg machen. Sobald der Weg wieder von Bäumen gesäumt ist nimmt die Lichtintensität dermaßen ab, dass sie beschließen sich an den Händen zu fassen um sich gegenseitig etwas Sicherheit zu geben. Doch erst einmal durchströmt sie ein leichtes Gefühl der Unsicherheit, denn bis zum Berühren ihrer Handflächen hat es noch keinen nennenswerten Kontakt ihrer Körper gegeben. Mutig setzen sie ihren Weg durch die Dunkelheit fort. Einige Abschnitte sind so gut von Bäumen abgeschirmt, dass man wohl Katzenaugen benötigt um noch etwas zu sehen. Lediglich große Unterschiede zwischen hell und dunkel kann man erahnen. In dieser Situation greift er zum Handy um mit dem hellen Display den Weg ein wenig zu beleuchten. Doch sie bitten ihn, es wieder einzustecken. Der Lichtstrahl würde ihre empfindlichen Augen, die immer noch in der Lage sind den Weg zu erkennen, nur irritieren. So führt sie ihn sicher an der Hand durch die schwarze Nacht. Genauso muss es Hänsel und Gretel ergangen sein. Alleine in einem dunklen fremden Wald, umgeben von tierischen Geräuschen, die manchmal zum innehalten drängen, deren Herkunft man aber, trotz intensiven Zuhörens, nicht heraus bekommt. Doch im Gegensatz zu den Märchengestalten gelingt es ihnen den Weg zurück zum Parkplatz zu finden.

Erleichtert über die Rückkehr auf eine beleuchtete Straße will er die verschlungenen Hände von einander lösen. Doch sie haben sich beide so an einander fest gehalten, dass es schon einer kleinen, fast unmerklichen, Anstrengung bedarf die Hände auseinander zu bekommen.

Und sobald sie sein Auto erreicht haben, trennen sich ihre Wege für den heutigen Tag.